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November/Dezember 2019: Faszination Vogelzug – Zugvögel in den Leinepoldern erleben

Obwohl sie eher klein sind, legen viele Vögel auf ihren jährlichen Wanderungen beeindruckend lange Strecken zurück. Woher sie wissen, wann sie starten müssen, gehört zu den spannendsten Fragen rund um Zugvögel. In den Leinepoldern lassen sich einige der gefiederten Wanderer beobachten.

Im Frühling erwacht bei uns die Natur und allenthalben sind Tiere damit beschäftigt, ihren Nachwuchs großzuziehen. Das gilt auch für Vögel, von denen etliche am Ende der kalten Jahreszeit aus ihren südlich gelegenen Winterquartieren zu uns kommen. Oft wird von einer Heimkehr gesprochen. Doch tatsächlich ist die Frage, wo die Vögel eigentlich zu Hause sind, sogar für Experten nicht in jedem Fall leicht zu beantworten.

Es gibt Vogelarten, die mehr Zeit in ihren Überwinterungsgebieten verbringen als in den nördlichen Brutgebieten. Deshalb ist die Deutung nicht abwegig, dass sie eher da "zu Hause" sind, wo sie mehr Zeit verbringen, das wäre demnach der Süden. Eine andere Sichtweise ist, dass sie da "heimisch" sind, wo sie sich fortpflanzen, und das unabhängig davon, wie lang sie sich dort tatsächlich aufhalten.

"Weil das Ganze ausgesprochen komplex ist, erscheint es sinnvoll, das gesamte Verbreitungsgebiet der Vögel, also Sommer- und Winterquartiere, als ihr Zuhause anzusehen", erklärt Thomas Spieker von den Naturscouts Leinetal e. V. "Für die zahllosen grauen Wildgänse, die Jahr für Jahr in den Leinepoldern überwintern, ist diese Gegend ebenso wichtig wie ihre Brutareale in den nördlichen Tundren. Ohne einen sicheren Überwinterungsplatz könnten sie sich im Folgejahr nicht fortpflanzen."

Saisonales Nahrungsangebot

Die meisten Vögel brauchen täglich eine Mindestmenge an Nahrung, um überleben zu können. Haben sie obendrein Junge zu versorgen, ist der Futterbedarf umso größer. Deshalb stellt es eine wichtige Anpassung an die Gegebenheiten dar, dass Vögel im Frühling brüten, wenn gehaltvolle Nahrung im Überfluss vorhanden ist.

"In den Leinepoldern sind es vor allem Wasservögel wie Enten und eine ganze Reihe kleiner Singvogelarten, die ihren Nachwuchs in dem Schutzgebiet großziehen", erläutert Thomas Spieker. Dass das Gebiet im Winter beispielsweise für Gänse attraktiv ist, obwohl man meinen könnte, es gebe dann kaum Nahrung, lässt sich leicht erklären: Der hohe Norden, wo diese Vögel brüten, liegt im Winter unter Schnee und Eis. Verglichen damit sind die Witterungsbedingungen in Mitteleuropa sehr viel besser. Selbst wenn ein wenig Schnee liegt, finden die Gänse in aller Regel darunter trotzdem Pflanzen, die sie satt machen.

"Weil sie im Winter wegen der Kälte einen erhöhten Energiebedarf haben und die Nahrung zwar vorhanden, aber eben jahreszeitlich bedingt nicht allzu üppig ist, sollten die Vögel möglichst nicht aufgeschreckt werden", führt Thomas Spieker aus. "Störung durch Spaziergänger abseits der Wege oder durch freilaufende Hunde veranlasst die Vögel, ängstlich aufzufliegen. Dabei wird Energie verschwendet, die durch eine erhöhte Nahrungsaufnahme wieder ausgeglichen werden muss." Unter anderem deshalb gilt in den Leinepoldern ein Wege- und Leinengebot für Besucher und sie begleitende Vierbeiner.

Platz zum Brüten

In der gemäßigten Zone der Nordhalbkugel sowie in den nördlichen Lebensräumen, darunter vor allem die Tundra, finden etliche Vögel ideale Plätze für die Jungenaufzucht. Würden sie stattdessen auf diese lange Reise verzichten und einfach dort bleiben, wo sie den Winter verbracht haben, hätten sie auf der Südhalbkugel Probleme, entsprechende Plätze zu finden. Zumal sie um diese mit den dort brütenden, nicht ziehenden Arten konkurrieren würden.

Unter anderem aus diesem Grunde zahlt es sich für die Vögel aus, die teils mehrere hundert Kilometer langen Zugstrecken auf sich zu nehmen und so die für sie perfekten Brutplätze auf der Nordhalbkugel nutzen zu können – inklusive der dort im Frühling reichlich vorhandenen Nahrung.

"Allerdings ist es keineswegs so, dass alle Reviere in den Brutgebieten auf der Nordhalbkugel frei sind", so Thomas Spieker. Manche Vogelarten haben kein einheitliches Zugverhalten. Es gibt neben den Zugvögeln auch sogenannte Teilzieher, was bedeutet, dass manche Individuen einer Art im Herbst wegziehen, andere aber im Brutgebiet bleiben. "Nach ihrer Rückkehr im zeitigen Frühling müssen die Vögel erst einmal unbesetzte Reviere finden, die bislang nicht von nicht-ziehenden Artgenossen belegt wurden", weiß der Naturkenner.

Darüber hinaus stehen die Zugvögel auf der Nordhalbkugel mit Individuen einiger nicht ziehender Vogelarten in Konkurrenz um Nistplätze. Es kann somit durchaus vorkommen, dass sich Individuen verschiedener Vogelarten beispielsweise um natürliche Baumhöhlen streiten. Beim Besetzen solcher Brutplätze sind jene Vögel im Vorteil, die entweder den Winter über im Brutgebiet geblieben sind oder die sehr früh aus dem Winterquartier zurückkehren.

Der richtige Zeitpunkt

Wann der richtige Zeitpunkt für den Aufbruch gekommen ist, lässt sich für uns Menschen oft kaum erkennen. Die Vögel spüren es dafür umso genauer: "Verschiedene Faktoren wie die kürzer werdende Tageslichtdauer, das merkliche Sinken der Tageshöchsttemperaturen und das Schwinden des Nahrungsangebotes zum Herbst hin sind für die Vögel wichtige Signale", legt Thomas Spieker dar.

Ein weiterer Faktor sind die Hormone. Sie zeigen den Vögeln gewissermaßen von innen an, dass bald die Zeit für die Fortpflanzung kommen wird. Das wiederum ist für die Gefiederten im Überwinterungsquartier eine Art Startsignal, das sie gen Norden ziehen lässt.

Einflüsse des Klimawandels

Durch den Klimawandel verändert sich die Natur derzeit erheblich. Der Frühling kommt immer zeitiger und das fein aufeinander abgestimmte System des Vogelzugs und der höchsten Verfügbarkeit von Nahrung in Form von Insekten gerät zusehends ins Ungleichgewicht. Einige Vogelarten könnten hierdurch in Bedrängnis geraten. "Doch oft hat die Natur Überraschungen parat, mit denen wir nicht rechnen", erklärt Thomas Spieker. "Denkbar wäre, dass die Vögel ihr Zugverhalten ändern oder sich anderweitig anpassen."

Eine solche Änderung des Zugverhaltens ist bei einigen Arten bereits jetzt zu beobachten. Zusehends häufiger versuchen Individuen von Vogelarten, die einst typische Zieher waren, in unseren Breiten zu überwintern. Dazu gehören Weißstörche, Kraniche und Stare. "Wer hier bleibt, muss weniger Kraftreserven in den langen Zug investieren und ist überdies im Frühling besonders früh zur Stelle, um Brutreviere zu besetzen“, erörtert Spieker die Vorteile. "Doch es kann auch schiefgehen und die Tiere können in langen Frostperioden in Bedrängnis geraten."

Ganz gleich, welche Trends sich in den kommenden Jahren weiterhin abzeichnen oder durchsetzen werden – in den Leinepoldern lassen sich die gefiederten Akteure das ganze Jahr über in wechselnder Besetzung beobachten. Die ehrenamtlich arbeitenden Naturscouts Leinetal bieten geführte Spaziergänge an. Die Detailinfos gibt es auf naturscouts-leinetal.de.