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Mai/Juni 2021: Jungvögel erobern die Leinepolder

Im Frühling und Frühsommer erblicken viele Vögel das Licht der Welt. Je nachdem, zu welcher Art sie gehören, gestaltet sich ihr Leben schon zu Beginn höchst unterschiedlich. Das lässt sich jetzt in den Leinepoldern beobachten.

Unter den Vögeln gibt es solche, die an Land leben und etliche, die eng an Wasser gebunden sind. Zu Letzteren gehören beispielsweise Enten und Gänse, aber auch Reiher. Jene Spezies, die wir als Landvögel bezeichnen, sind feuchten Lebensräumen trotzdem nicht unbedingt abgeneigt. So sind die Singvögel zwar Landvögel. Doch zum Beispiel die zu dieser Gruppe gehörende Bachstelze sucht gern feuchte Wiesen und Gewässerufer auf, um dort nach Nahrung Ausschau zu halten. Greifvögel wiederum sind Landvögel, aber Gewässer und deren nähere Umgebung bieten ihnen gute Jagdgründe. Besonders deutlich wird das unter anderem beim Fischadler, der seine bevorzugte Beute im Namen trägt.

Angesichts der vielfältigen und auf den ersten Blick oft verwirrend unterschiedlichen Lebensweisen verwundert es nicht, dass Vögel bereits unmittelbar nach dem Schlüpfen ihre arttypischen Eigenarten haben. Aufmerksames Beobachten und ein wenig Glück vorausgesetzt, lässt sich das in den Leinepoldern live miterleben.

Hotel Mama (und Papa)

Jungvögel vieler Arten sind nackt und blind, wenn sie sich aus ihren Eiern befreien. Sie liegen im Nest und sind darauf angewiesen, von ihren Eltern gefüttert und – zumindest in der ersten Zeit – gewärmt und vor Fressfeinden beschützt zu werden. Diese Jungvögel werden als Nesthocker bezeichnet, weil sie im Nest heranwachsen. Recht bald sprießen die ersten Federn und die Jungtiere können die Augen öffnen. Je älter sie werden, desto lebhafter werden sie und üben das Stehen auf ihren anfangs noch wackeligen Beinen. Außerdem schlagen sie ein wenig mit den Flügeln, um ihre Muskulatur zu kräftigen.

„Irgendwann kommt der große Tag und sie verlassen mutig das Nest, aber nicht in jedem Fall können sie dann schon fliegen“, weiß Thomas Spieker von den Naturscouts Leinetal e. V. Bei einem Blick über die Wiesen im Naturschutzgebiet entlang der Leine zwischen Einbeck und Northeim fallen im Frühling manchmal beispielsweise junge Bachstelzen oder Amseln auf, die auf dem Boden sitzen und bei ihren Eltern lautstark Nahrung einfordern. „Diese Jungvögel haben sich von im Nest lebenden Nestlingen in sogenannte Ästlinge gewandelt“, führt  Spieker aus. „Sie heißen so, weil man Vögel dieser Altersstufe manchmal auf Ästen sitzen und um Futter betteln sieht.“

Lernen ohne Sicherheitsnetz

Dass sie das Nest bereits verlassen haben, obwohl sie noch nicht richtig fliegen und erst recht nicht selbst für sich sorgen können, mag seltsam wirken. Doch es hat einen wichtigen Grund: Diese Fertigkeiten sind den jungen Vögeln nicht angeboren und sie müssen sie erst erlernen – quasi in der Schule des Lebens.

„Ästlinge sind sehr verwundbar“, erklärt Thomas Spieker. „Sie sind noch nicht dazu in der Lage, Gefahren richtig einzuschätzen und können meist nicht allzu gut und schnell flüchten, falls sich ihnen ein Beutegreifer nähert. Dies können durchaus freilaufende Hunde sein, die vielleicht nur neugierig sind, für die Jungvögel aber zur tödlichen Bedrohung werden.“ Unter anderem deshalb gibt es die Leinenpflicht und das Wegegebot in Naturschutzgebieten wie den Leinepoldern. Dadurch haben (nicht nur) die Jungvögel abseits der Wege eine Chance, von Spaziergängern und den sie begleitenden Hunden unbehelligt zu bleiben.

Sprung ins kalte Wasser

Bei etlichen Wasservögeln läuft die Kindheit völlig anders. Befreien sich junge Enten und Gänse aus ihren Eiern, sind ihre Augen sogleich geöffnet und sie tragen bereits am gesamten Körper flauschige Federn. „Zwar sind sie noch sehr klein und unerfahren, doch sie sind schon zum Laufen und Schwimmen fähig. Deshalb beginnen sie nach kurzer Zeit damit, gemeinsam mit Eltern und Geschwistern umherzustreifen. Man bezeichnet sie als Nestflüchter“, so Spieker. Unter den wachsamen Augen ihrer Eltern erkunden sie ihren Lebensraum und lernen, was sie fressen können oder vor wem sie sich fürchten sollten. Dabei bietet ihnen die familiäre Gruppe Schutz.

Neben Gänsen und Enten, bei denen die Jungvögel selbst ihre Nahrung suchen, gibt es zum Beispiel mit den Blässhühnern und Haubentauchern weitere Wasservögel in den Leinepoldern. Deren Jungvögel sind ebenfalls Nestflüchter, allerdings solche mit gewissen Vorzügen: Ihre Eltern versorgen sie einige Zeit mit Nahrung.

Junge Haubentaucher kommen sogar oftmals in den Genuss eines Wassertaxis. „Sind sie erschöpft, klettern die Kleinen auf den Rücken ihrer Eltern und lassen sich von ihnen auf dem Wasser umhertragen. Mit einem Fernglas kann man das meist gut beobachten – und es ist immer wieder nett anzusehen“, schwärmt der Vogelfreund Thomas Spieker.

Und noch etwas verrät er: „Falls Sie einen Jungvogel finden, schauen Sie genau nach, ob es ein Ästling ist, der möglicherweise nur auf seine Eltern wartet. Nehmen Sie ihn auf keinen Fall mit, wenn er unverletzt ist und gefüttert wird.“ Von ihrer Familie getrennte junge Wasservögel sind meist in Not und es wäre gut, sie möglichst wieder mit ihren Eltern und Geschwistern zu vereinen. Die Vögel anzufassen, ist übrigens kein Problem. Ihre Eltern nehmen sie entgegen anders lautender Gerüchte trotzdem noch an, denn es ist ihnen egal, ob die Jungtiere nach Mensch riechen oder nicht.