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März/April 2022: Was die Leinepolder zu einem wichtigen Naturrefugium macht

Durch seine Eingriffe in die Natur richtet der Mensch nicht immer nur Schaden an. Ein herausragendes Beispiel für Naturparadiese aus Menschenhand sind die Leinepolder zwischen Northeim und Einbeck und die nahe gelegenen Kiesseen.

Ist die Natur intakt, reguliert sich in ihr praktisch alles von selbst. Vorübergehende lokale Zerstörung durch Ereignisse wie Stürme oder Hochwasser gehört zu den natürlichen Abläufen. Unmittelbar davon betroffene Tiere und Pflanzen haben zwar erst einmal das Nachsehen. Doch die durch diese Geschehnisse hervorgerufenen Veränderungen in den Lebensräumen bieten Möglichkeiten für Neues. In der Natur ist alles im ständigen Wandel.

Fallen beispielsweise in einem Wald große alte Bäume einem Sturm zum Opfer, gelangt durch die neu entstandenen Lücken im Kronendach mehr Licht auf den Waldboden. Junge Bäume, die im Schatten der „alten Riesen“ kaum Chance gehabt hätten, streben nun dem Himmel entgegen.

An Flüssen verändern gelegentliche Überflutungen die Uferverläufe. Es können zum Beispiel isolierte stehende Gewässer in ihrer Nähe entstehen, die bei späteren Überflutungen wieder vorübergehend mit dem Fluss verbunden werden. Während dieser Zeiten wandern Tiere wie Fische oder Muscheln ein und aus, wodurch sich die (genetische) Vielfalt erhöht. Kaum ein Fluss „darf“ das heute noch, weil die Ufer verbaut sind und sich die Menschen vor Überflutungen ihrer Felder, Straßen und Ortschaften schützen wollen.

Durch den Kiesabbau entstand die Northeimer Seenplatte. Der Mensch hat hier gewissermaßen große Veränderungen der Landschaft durch einschneidende Naturereignisse simuliert und so Gewässer in der Nähe der Leine entstehen lassen. Erst profitierten wir vom Kies, nun sind diese Seen ein Gewinn für die Natur – und für Menschen, weil sie zur Naherholung genutzt werden.

Ähnlich verhält es sich bei den Leinepoldern, die ein beliebtes Ziel für Auszeiten in der Natur sind. Ihre eigentliche „Aufgabe“ ist aber von noch größerer Bedeutung: Bei Hochwasserereignissen fassen sie gigantische Wassermassen, die sonst zahlreiche Ortschaften abwärts an der Leine überfluten würden. Diese hin und wieder auftretenden Überflutungen der weitläufigen Polderflächen entsprechen dem, was entlang naturbelassener Flüsse normal ist und wiederholt geschieht. Nicht zuletzt deshalb blüht das Leben in dem Gebiet, das für den Arten- und Naturschutz auf deutscher wie auf europäischer Ebene von großer Bedeutung ist. 

Natürliche Dynamik

Weil in den Leinepoldern die natürliche Flussdynamik – zumindest bis zu einem gewissen Grad – ihren Lauf nehmen darf, gestalten gelegentliche Überflutungen die Gegend um. An strömungsreichen Stellen werden dann entlang des Ufers Pflanzen weggerissen, wodurch diese Abschnitte langfristig nicht verbuschen. Überdies gibt es Bereiche, in denen sich kleine Gehölze finden. Sie halten normalerweise auch dem von Zeit zu Zeit aufkommenden Hochwasser stand. „Zahlreiche Tierarten wissen dieses Mosaik aus offenen und bewachsenen Arealen bestens für sich zu nutzen“, erklärt Thomas Spieker von den Naturscouts Leinetal e. V. Es ist die Vielfalt an Kleinlebensräumen, die den Artenreichtum der Leinepolder begünstigt.

„Im Winter wissen etwa die hier verweilenden Gänse aus dem hohen Norden offene Landschaften mit Zugang zum Wasser sehr zu schätzen“, so der Naturkenner. „Sie sehen sich nähernde Gefahren schon von Weitem, wenn keine Büsche und Bäume die Sicht versperren.“ Für kleine Vogelarten, von denen es etliche in den Leinepoldern gibt, sind die Bäume am Ufer der Leine beliebte Brutplätze.

Insbesondere im Frühling verraten die zierlichen Singvögel mit ihren Gesängen ihre Anwesenheit, was sich auf geführten Exkursionen der Naturscouts Leinetal oder bei einem Familienspaziergang im April und Mai eindrucksvoll erleben lässt. Aktuelle Termine für geführte Wanderungen der sind unter https://naturscouts-leinetal.de/ abrufbar. Neben den terminierten öffentlichen Veranstaltungen können mit den Naturscouts auch individuelle Führungen vereinbart werden.

Königreich (feuchte) Wiese

In den Poldern erstrecken sich große Wiesen, die recht tief liegen. Deshalb sind sie – ausreichende Niederschläge vorausgesetzt – meist nicht allzu trocken. Dieser Lebensraum wird als feuchtes Grünland bezeichnet und ist das Zuhause zahlreicher Arten. Hierunter sind kleine Säugetiere wie Feldhasen und Mäuse. Frösche und Kröten finden ebenso ihr Auskommen, was wiederum Weißstörche anzieht. Sie lassen sich oft dabei beobachten, wie sie langsam umherschreitend mit gesenktem Kopf den Boden nach Amphibien und Mäusen absuchen. Letztere werden zudem von den Greifvögeln gejagt, die gern über den Poldern ihre Kreise ziehen.

Jene Wiesen, die von Menschen und Hunden nicht betreten werden dürfen, sind außerdem der Lebensraum eines sehr selten gewordenen Vogels: Hier residiert der Wachtelkönig (siehe auch unsere Pressemitteilung über diese Vögel). Mit bis zu 50 rufenden Männchen gehört die Population in den Poldern zu einer der größten in ganz Deutschland. „Weil sich diese scheuen Vögel am liebsten im hohen Gras vor unseren Blicken verborgen halten, sind wir zum Nachweis der Tiere zumeist auf unsere Ohren angewiesen“, erklärt Thomas Spieker. Zu hören sind die knarrenden Lautäußerungen im späten Frühling und Frühsommer hauptsächlich in der Abenddämmerung und nachts.

Enten, Taucher und mehr

Fast alle Entenarten, die in Deutschland vorkommen, lassen sich im Jahresverlauf mit etwas Glück an der Northeimer Seenplatte beobachten. Auf den mit Wasser gefüllten „Löchern“, die der Kiesabbau in der Landschaft hinterlassen hat, fühlen sich unter anderem Seltenheiten wie die Spießente wohl. Sie ist an der langen, spießartigen Schwanzfeder der Männchen zu erkennen.

Daneben finden sich immer wieder weitere interessante und seltene Wasservögel ein, unter ihnen der Ohrentaucher, der Schwarzhalstaucher und im Winter die eleganten Singschwäne, siehe auch unser Pressetext über diese Wasservögel.

„Entlang der Ufer der Kiesseen lohnt es sich, nach Gefiederten wie etwa dem Flussuferläufer, dem Grünschenkel oder dem Kiebitz Ausschau zu halten – am besten mit einem Fernglas“, empfiehlt Spieker. „Da die meisten Vögel schreckhaft sind, sollten sie nur aus gebührendem Abstand betrachtet werden. Ansonsten fliegen sie schneller weg, als man sie überhaupt gefunden hat.“ Weil Vögel durch solche Fluchten Energie verbrauchen und wegen ihnen weniger Zeit zur Nahrungssuche haben, sind derlei Störungen unbedingt zu vermeiden. Nur so bleiben die Naturparadiese aus Menschenhand im südlichen Niedersachsen für die Tiere ein sicheres Refugium.